Eine Frühchengeschichte...

Damals wohnten wir in der Schweiz und fuhren eigentlich nur zum Weihnachtsfest nach Deutschland zu meinen Eltern. Aber das Weihnachtsfest fiel ins Wasser und aus den paar Feiertagen wurden 10 Wochen im hohen Norden.

 

Und das alles wohl wegen der Weihnachtsgans – die war ja so fettig, dass sie mir ganz schön schwer im Magen lag. „Nun gut“, dachte ich, „ist ja auch nicht mehr viel Platz für so eine Gans in meinem Bauch, der ist ja schon recht voll mit Baby“. Immerhin war ich der 29. Woche schwanger.

 

Die Bauchschmerzen wurden aber leider immer stärker, auch Magen-Darm-Tee und Verdauungsspaziergänge haben da nicht mehr geholfen. „Das Kind dreht sich wohl heute endlich mal rum“, sagte ich mir, „und steckt mir irgendwie quer auf einem Nerv.“, gehe ich halt doch mal ins Krankenhaus - wahrscheinlich haben die etwas zur Entspannung...

 

Pustekuchen! Da kamen sie schon alle ganz aufgeregt im Gang auf mich zugelaufen und ruckzuck lag ich auf einem Stuhl. Es war natürlich der Sonntagabend vor Weihnachten, mit einer jungen Ärztin frisch im Dienst. Die schaute nur einmal in mich hinein und fing augenblicklich an zu zittern. „Ich habe das Füsschen schon in der Hand in spätestens zwei Stunden ist das Kind da.“ Plötzlich hatte ich tausend Schläuche im Arm. Lungenreife, Wehen Hemmer, Betablocker, etc.

 

Anfangs schien das ganze große Team, dass sich plötzlich in dem kleinen Zimmer drängelte, noch recht ruhig und optimistisch aber mit der Zeit wurde das von ihnen befürchtete, schlimmste Szenario wahr.

 

Die Wehen hörten nicht auf, dann platze die Fruchtblase, alle Schläuche wurden gezogen. Mein Mann hatte Angst um mich, ich hatte Angst um mein Kind. Zitternd wartete ich auf dem OP-Tisch auf das Eintreffen des Chefarztes (der wohl noch nie so schnell über die Autobahn gedüst war). Da war dann auch niemand mehr locker oder lustig. Alle waren stumm und warteten konzentriert. Ich sah den Chefarzt nicht, als er hinter mir durch den Gang flitzte und ich bemerkte auch nicht, wie ich in Vollnarkose versetzt wurde. Das ging alles rasend schnell.

 

Als ich wieder zu mir kam, hielt mein Mann mir ein Foto unserer Tochter entgegen und erleichtert schlief ich wieder ein. Als ich ein paar Stunden später aufwachte, begann die längste Nacht meines Lebens. Ich hatte keine Telefonnummer von der Neonatologie-Station, es war weit und breit keine Schwester zu sehen und ich konnte nur warten und meiner Tochter in Gedanken Kraft übersenden.

 

Endlich war es Morgen. Trotzdem war keine rollstuhlschiebewillige Schwester auf der Station in Sicht und mein Mann war auch nicht da. Der war nämlich derweil schwer beschäftigt damit, sich durch alle bürokratischen Hürden der Krankenhauswelt zu kämpfen. Das Problem schien unsere schweizerische Krankenversicherung zu sein – damit waren wir zu gefährlichen Ausländern geworden. Mein Mann sollte doch tatsächlich sofort 2.000 Euro Kaution in Bar an der Krankenhauskasse hinterlegen, für mich und unsere Tochter, damit wir uns nicht heimlich absetzen. Mit Inkubator und Notstromaggregat…?

 

Um 10.00 Uhr war mein tapferer Mann endlich an meinem Bett angekommen und konnte mich zum 1. Mal zu unserer Tochter hinunter in die Kinderstation schieben.

 

Und da lag sie: 39 cm gross, 1.170g, geboren nach nur 28 + 4 SSW. Und dann geschah ein Wunder. In den 10 Wochen auf der Station machte sie es immer besser, als die Ärzte es ihr zugetraut hatten. Nach bereits einer Woche war sie völlig frei von Tubus und Sauerstoffmaske. Wir waren sehr stolz auf sie und ängstlich zugleich. Immer diese Angst vor Morgen. Wird es ihr morgen immer noch so gut gehen wie heute? Jeden Tag.

 

Und nach sieben Wochen auf der Station bin ich eines Morgens aufgewacht und habe zum 1. Mal gewusst: „Alles ist gut. Es geht ihr heute auch noch so gut wie gestern.“ Und ich hatte Recht.

 

Ich war jeden Tag in der Klinik von morgens bis abends. Nur zum Essen und Schlafen ging es ins Hotel Mama. Mein Mann hatte da weniger Glück. Er bekam nach Schweizer Gesetz genau zwei Tage Urlaub als Geburtsgeschenk. Nach den Weihnachtsferien musste er also wieder arbeiten und besuchte uns am Wochenende in der Klinik. Nach 8 Stunden Zugfahrt.

 

Er hat damals viel darüber nachgedacht, was wäre wenn…was alles passieren könnte… Ich nicht. Ich habe einfach funktioniert. Vom 1. Tag an habe ich alle drei Stunden Milch abgepumpt. Tag und Nacht. Ich habe die Stations-Tiefkühltruhe bis zum Bersten gefüllt. Dann die Tiefkühltruhe meiner Eltern. 50 Liter Muttermilch. Und dann? Dann mussten wir am Ende alles wegschmeissen. Erstens gab es leider keinen Ort, an dem man die Milch spenden konnte und zweitens war der Weg für die TK-Milch bis in die Schweiz zu weit und zu warm.

 

Wäre aber auch nicht nötig gewesen, denn unsere Tochter ging vollgestillt mit uns nach Hause. Das war ein grosser Moment für uns alle: ein schöner und ein angsteinflössender zugleich. Nach 10 Wochen voller Ärzte, Schwestern und Überwachungsapparaten fühlt man sich plötzlich völlig alleingelassen auf weiter Flur.

 

In der Zwischenzeit sind wir von der Schweiz nach Deutschland umgezogen und lernen die Vorzüge von Frühchenvereinen und Frühchen-Webcams kennen. Das hätte uns damals sehr geholfen. Heute geht es unserer Tochter gut. Sie schneidet bei den U-Untersuchungen in allen Bereichen sehr gut ab, ausser im Motorischen. Durch ihre Frühgeburt hat sie eine Infantile Zerebralparese erlitten (ICP) und macht daher bereits seit ihrem jungen Leben im Inkubator Physiotherapie. Jeden Tag. Ein Leben lang.